Texte & Inhalte - Steffen Kersken

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Der Baum im Winde

Schau, dort steht der Baum im Winde
Es schmücken ihn die Blätter reich
Ob Birke, Eiche oder Linde
Hier im Winde ist jeder gleich

Er steht dort irgendwo am Niederrhein
Und hofft, auch der Mensch ist gleich in diesem Winde
Für sie betet er im Dämmerschein
Glaubt an das Gute im Menschenkinde

Ach, wie gut das er nicht laufen kann
Sieht er nicht, wie dem Mensch die Weisheit längst entwischt
Es ist die Gleichheit, die der Mensch noch nie ersann
Und in diesem Winde, des Baumes Hoffnung still verlischt

  
Gute Besserung!
Zupke, mein entfernter Bekannter, aber nicht Verwandter, erzählte mir neulich beim Griechen in Bergheim, dass er sich neuerdings angewöhnt habe, freilich mit etwas Übung, nach diversen Gesprächen, Unterhaltungen oder auch nach einem Small Talk, sei es im Stehen oder gerne im Sitzen, ob in der Fußgängerzone oder an der Bar, statt einem gewöhnlichen „Tschüs“ ein „Gute Besserung“ zu wünschen.
Zupke, zu mir beim Griechen, sei es zunächst peinlich gewesen, diesen kleinen Seitenhieb, diese verbale Spitze oder versteckten Hinweis zu äußern und es habe ihn eine gewisse Überwindung gekostet. Aber die Tatsache, dass auch langjährige Freunde oder Bekannte immer mehr nörgelten, zum Teil sogar ins unerträgliche Alles-Stänkern verfielen, habe ihn letztendlich davon überzeugt, seine Kommunikationsweise entsprechend anzupassen, vielmehr noch, seine Reaktion auf verbales Dauer-Nörgeln und Permanent-Murren zu verschärfen. Dieses latente Erwachsenen-Quengeln sei er über, mache ihn wurmstichig, aber so wat von wurmstichig, so Zupke zu mir beim Griechen in Bergheim!
Das sei der Grund, warum er sich letztens im privaten Freundeskreis, nach penetrantem Flüchtlings-Moppern, Mobbing-Gezetere und Gerechtichkeits-Quengeln mit einem leisen und freundschaftlichen „Gute Besserung“ verabschiedete! Diverse Freunde, so Zupke zu mir im Poseidon, hätten seine Anspielung kaum wahrgenommen, weshalb er etwas später, am wöchentlichen Doppelkopf-Stammtisch, mit ausdrucksvoller Stimme ein munteres „Gute Besserung“ in die Kneipe geschmettert habe, was auch an Nachbartischen zum kurzfristigen Verstummen führte! Aber nur kurzfristig, es sei noch keine dauerhafte Besserung zu erkennen gewesen! Zupke, so Zupke zu mir, sei neulich sogar der emotionale Geduldsfaden gerissen, als er am Duisburger Bahnhof, auf der Toilette sitzend, vom Häuschen-Nachbar regelrecht von der Seite angefahren wurde, warum es denn hier nur einlagiges Toiletten-Papier gäbe und ob sich eine moderne Stadt kein zweilagiges Ritzen-Krepp leisten könne! Überall, wo man geht und sitzt, seien nur noch Nörgel-Fressen, so Zupke zu mir, mit erboster Stimme.
Er habe sein Verhalten deswegen verschärft und sich bei einem spanischen Abend in Moers etwas völlig Abwegiges geleistet, etwas völlig Aberwitziges, so Zupke. Das mondäne Pärchen am Nachbartisch sei dermaßen mit einem Dauer-Beschweren und Allzeit-Motzen aufgefallen und habe sich selbst über die kleinsten Auffälligkeiten beschwert, dass Zupke sich ein Einschreiten mehrfach habe verkneifen müssen. Mehrfach!
Er ließ es sich aber nicht nehmen, beim Verlassen des Lokals kurz an den Problem-Tisch heranzutreten und dem verdutzen Mecker-Pärchen ein fröhliches „Gute Besserung“ zu wünschen!
Ein kurz aufbrausender Applaus der nebenan sitzenden Gäste brachte das Moser-Paar vollends zum Schweigen!
Durch diese Erfahrung motiviert, so Zupke zu mir zwischen Ouzo und Zaziki, habe er sämtliche Hemmungen verloren und im Zug neulich sogar eine harte Nuss geknackt, als er einen narzisstischen Ehemann und System-Stänkerer zurechtwies, als dieser im Zug die verstörte Schaffnerin annörgelte, wer denn im beschmutzen Abteil für die ganzen Sauereien gefälligst verantwortlich sei! Zupke habe sich passend eingemischt, dass für Sauereien in Zügen der Fahrgast verantwortlich sei, und dem perplexen Mecker-Ehemann obendrein ein „Gute Besserung!“ gewünscht, woraufhin sich die genervte Ehefrau ein kurzes Lächeln nicht verkneifen konnte.
Zupke würde neuerdings nur noch, immer wieder, ohne darüber nachzudenken oder zu zweifeln, bei Verabschiedungen ein „Gute Besserung“ verwenden. Pauschal!
Egal ob Small Talk, Unterhaltung, Kneipen-Geschwätz, Grill-Abend, Zufalls-Treff oder Vereins-Pudelei, ob Verkaufs-Gespräch, Meeting, Zielverhandlung, kollegialer Talk oder Mitarbeiter-Gespräch, er würde immer ein „Gute-Besserung“ wünschen. Pauschal!
Sicher ist sicher“, so Zupke zu mir beim Griechen am Wendekreis!
Die Menschen würden immer mehr darauf reagieren, zum Teil überrascht oder sogar positiv, einige wenige könnten, wenn sie ein „Gute Besserung“ nach ihrem Motz-Anfall zu hören bekämen, ein verschmitztes Lächeln nicht unterdrücken!
Zupke, so Zupke zu mir, habe letztendlich sogar in Telefongesprächen ein „Gute Besserung“ gewünscht, selbst bei hochoffiziellen Gesprächen, die hochoffiziell zu hochoffiziellen Zwecken mitgeschnitten würden, wie auch bei dem Telefonat mit Herbert Knackfuß, dem Leiter der Sparkassen-Filiale in Rumeln-Kaldenhausen, hätte sich Zupke mit einem „Gute Besserung!“ verabschiedet.
Mit Erfolg, denn, wie die hochoffizielle Tonaufnahme der Sparkasse beweisen würde, so Zupke zu mir in Bergheim, hätte Knackfuß das Gespräch mit einem einsichtigen „Dankeschön“ beendet!
Nachdem Zupke den letzten Ouzo leerte, blieb er noch einmal abrupt in der Türe des Griechen stehen und drehte sich zu mir mit zwei abschießenden Worten um: „Gute Besserung!“
Letztens, sagte mir die Brigitte Langerscheid bei Edeka in Vluyn, so zwischen Brot und Tupperware:
„Also Herr Kersken, ich finde dat ja total bekloppt, wie wir unsere eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.
Unsereins wird doch gar nicht mehr gesehen, geschweige denn, wir können uns mal durchsetzen! Ich mag mich dadurch immer weniger oder schenke meinen Bedürfnissen die nötige Beachtung. Hauptsache, wir machen et anderen recht. So is dat!

Ich  verlieren mich richtig großen Welt! Die Welt und die Leute da draußen, die machen mir noch Angst. Traurig machen die mich, mit ihrem Gehabe da und ihrer Wichtigkeit.
Ich nehme die gar nicht mehr ernst, aber trotzdem kreisen meine Gedanken nur darum, wie ich alles richtig machen kann oder das ich bloß nichts falsch mache!
Dat is doch kein Leben!
Ich bin dann immer total platt, falle in ein Loch, bin so träge, müsch und hilflos, fühle mich so ausgeliefert oder wertlos.
Ich trete auf der Stelle, bin im Wartemodus, weil ich hoffe, das sich etwas ändert oder sich die anderen ändern. Aber nix passiert, alle machen so weiter, sind im Flow.
Fürchterlich! Tunnelblick. Elefantenwanderung! Alles platt machen, was nicht mitzieht.
Ich hab dat Gefühl, da auch nix gegen machen zu können. Ich bin außen vor. Da ist die Welt und hier bin ich.
Herr Kersken, da hab ich solange drüber gegrübelt, bis mir schwindelig wurde.

Am Ende habe ich mir gedacht, wenn ich andere nicht ändern kann, dann muss ich mich irgendwie ändern. Denn Dinge und andere Menschen lassen sich nicht immer ändern!
Dat is ne Wahrheit, die gab es schon immer. Wie der Rhein, der vor uns schon da war!

Da ist quasi ein richtiges Gedankenspiel draus geworden und ich habe mir seid neuestem abgewöhnt, mir zu sehr zu Herzen zu nehmen, was andere über mich denken.
Wie letztens im Gespräch, da hab ich noch so gedacht,
wat der jetzt über mich denken mag?
Kennen Sie dat?
Da willste wat sagen, aber halt!
Wat würde der dann über mich denken,
wenn ich dat jetzt sach,
wat ich eigentlich sagen möchte
oder wenn ich plötzlich mal Nein sage?
Kennen Sie dat?
Also lieber nix sagen.
Dann denkt der sich ja auch nix,
wenn ich nämlich nix sage!
So denke ich dann wieder.

Aber eigentlich is dat doch Quatsch, einfach nix zu sagen!
Denn, et is doch egal, wat ich denke,
wat der über mich denkt, wenn ich sage, wat ich denke!
Und is auch egal, wat der denkt, wenn ich sage, wat ich denke oder sagen möchte,
denn et is nur wichtig, wat ich sage und denke, und nicht,
wat ich nicht sage, weil ich denke:
wat denkt der jetzt von mir, wenn ich dat sage?
Aber gestern,  Herr Kersken, gelang mir dat wieder nicht, zu sagen,
wat ich denke.
Ich denke quasi immer nur an andere.
Kennen Sie dat?

Foto: Dirk Verweyen



Bedürfnisse – mehr als ein Wort!

Neben ungewollten Krisen und Pausen, wo wir uns zwangsweise neu erfinden müssen, gibt es Auszeiten, so kleine Inseln im Alltag, die wir uns bewusst schaffen können, wenn wir es denn möchten! Der Mensch merkt dabei schnell, es gibt noch Bedürfnisse, die fernab von Beruf vorhanden bei uns vorhanden sind. Der Beruf gibt uns Identität, Selbstwert und Anerkennung und vieles mehr, aber selbstbestimmte und Bedürfnis orientierte Pausen, machen uns unabhängig von anderen und Gesellschaft, bestimmen unser eigenes Wertesystem und ich fördere mein Selbstbild.
Sport treiben, Kurse belegen, Musik hören, Kurztrips, malen etc. einfach mal verrückte Dinge ausprobieren!
Liebe Freigeister, Sie werden überrascht sein, was uns alles ausfüllen kann, fernab vom Wertesystem „Beruf“ . Und eines ist mir klar geworden: ich darf selber bestimmen, was mir neben der Existenzsicherung von Wert ist, das muss einem anderen nicht gefallen, aber ich nehme mich wichtig!
Ich für meinen Teil Sinne ja gerne....ja Sinnen. Positives Nachdenken. Nicht grübeln oder dösen, nein, erhoffen,  aber nicht abschalten, nee, eher phantasieren oder tagträumen. Ich geh gerne in die Kneipe, setz mich da hin, ganz alleine und tagträume. Tagträume sind wichtig, oft Grübeln wir über Probleme und das macht negative Gefühle, wie Angst. Aber wenn wir Tagträumen, dann ist das positives Träumen, an etwas Schönes denken.
Liebe Quergedachten, das müssen sie mal wieder versuchen: Tagträumen!
Sich in schöne Augenblicke träumen, sich geistig vom stressigen Alltag „wegüberlegen“.
Schönes Wort: „wegüberlegen“.
„Schatz, gestern habe ich mich geistig von dir wegüberegt“, müssen sie mal sagen...
„Aber im positven Sinne wegüberlegt“, das Sätzchen sollten Sie noch hinterherschieben!
Sie dürfen beim Tagträumen nicht depressiv aussehen, nicht wahr, bloß nicht depressiv aussehen! Bedrückt geht noch, elegisch-bekümmert, na ja, bedröppelt, nun gut, trübsinnig ok, schwermütig kein Problem, aber bloß nicht depressiv!
Letztens saß ich in Moers in ner Kneipe, war am Sinnen und da kam ein Gast zu mir an die Theke:
„also Herr Kersken, sie gucken aber depressiv! Bei Ihnen is wohl sämtlicher Hopfen und Malz verloren, sie schauen ja, als hätte Sie der Esel im Galopp verloren!“
„Nee, ich bin am Sinnen, sach ich!“
Oder neulich in der Laterne in Duisburg,  da saß mir gegenüber ein weiterer Gast, also sonst niemand, nur wir zwei und der Wirt. Zwei Stundenlang schweigen, der Wirt wischte an seinen Gläsern rum, und mein gegenüber guckte auf sein Herrengedeck, also Bier und Korn und hat sich schweigend weggesoffen. Et sah jedenfalls so aus, als würde er jetzt weniger nachdenken oder Sinnen. Aber man weiß ja nie genau, wenn so Leute drei Stunden auf das Bier und Korn gucken und schweigen, ob die jetzt nachdenken oder nicht, man weiß es nicht!
Sinnen oder Saufen, dat is die Frage! Man steckt ja nicht drin!
Man weiß es einfach nicht: denkt der Mensch jetzt nach oder ist er ins Koma verfallen?
Man steckt nicht drin in so einem Kopp, nicht wahr!
Der Mann kann besoffen sein oder womöglich hochintelligent, kann ja auch sein!
Und er  is wirklich  nur am Sinnen!
Und viel schlimmer: Er ist hochintelligent, aber ständig besoffen. Man steckt nicht drin!
Er guckt jedenfalls nach drei Stunden urplötzlich hoch, mir direkt in die Augen, ich war ganz verdutzt, und sagt:
„Ich mag deine Fresse nicht!“

Ja, wirklich wahr! Er war drei Stunden im Koma, wacht auf und sagt: „Ich mag deine Fresse nicht!“
Die Psychologen nennen das Gegenübertragung, weil er seine Probleme auf meine Fresse projiziert! Ich sage zu ihm: „Dann sind wir schon zwei!“ Da platzte der Knoten zwischen uns.
Wir haben uns danach  noch oft in Moerser Kneipen getroffen, alle nannten ihn nur IC, weil er ein bosnischer Serbe war.
Wat is ein bosnischer Serbe? Klingt erst mal seltsam! Seine Mutter Serbin und Vater Bosnier, also gesellschaftspolitisch hat es IC ziemlich getroffen, jedenfalls, da an der Adria heißen alle irgendwas mit „ic“ am Ende. IC, eigentlich Kellner in einer Moers Kneipe, sass nach Dienstschluß selber in einer anderen Kneipe und sann vor sich hin. Angetüddelt warf er deutsche Sprichwörter durcheinander. Er sagte zum Beispiel so Weisheiten wie, „Und genau da liegt der Hase begraben.“ „Welcher Hase denn?“, sag ich.
„Wenn der Meier wat will, dann kann der auf einmal von Pontius nach Pilates rennen.“
„Ach Pilates macht der Meier? Wusste ich gar nicht!“
„Also die Schwettmanns, die führen ne Ehe wie Sodom und Gomera.“
Oder letzens in der Kneipe:
„Man könnte sagen, ich bin ihm richtig vom Dach gestiegen!“
„Jau, sag ich, da bisse ihm mal richtig vom Dach gestiegen!“
Ich weiß noch, wie der die Diskussion mit den Herren Akademikern im Moerser Ritumenti geführt hat: „Ihr mit Eurem Gehalt, da müsst ihr mal die Kirche vorm Dorf lassen!“
Was für einen Sinn hätte das, eine Kirche vor ein Dorf zu bauen? Wie kämen dann die ganzen alten Leute zur Kirche?
„Bei Flüchtlingsthemen darf  man nicht um den heißen Brei herum reden, da muss man mal Farbe erkennen, Herr Kersken!“
Oder neulich:
„Mit so ner Sache, Kersken,da läute ich nicht unbedingt die große Glocke!“
„Nee, da läute mal besser nicht, IC!“
IC ist nicht nur bosnischer Serbe, sondern auch Niederrheiner und der Niederrheiner verdreht gerne sämtliche Wahrheiten, nicht wahr!
Ich habe manchmal das Gefühl, die Vergangenheit muss immer wieder neu geschrieben werden, nicht, weil neue Erkenntnisse über Geschehnisse da sind, sondern weil der Niederrheiner ständig seinen Standpunkt dazu verändert!
IC, der bosnische Serbe, bekam aber hin und wieder auch einen sehr ernsten Blick, wenn er die Augenbrauen hoch zog, dann wusste man, jetzt sinnt er gleich öffentlich! Er schmetterte neulich in die Runde: Wir dürfen nicht nur unsere eigene Sprache verstehen, „Isso“!
„Isso“ ist Niederrömisch, eine Mischung aus Römisch und Deutsch: es ist so, lateinisch factum est ita, es ist so und so war et auch immer,  ut erat semper, so wird es immer sein, glaub mir dat,
sic non semper erit!
Und die Steigerung ins Niederrömisch: „ISSO“!

Oder „Komma“, auch so ein Begriff: kommen gleich veni, komm mal eben, du hast ja sonst nix zu tun: get tempus plana, ihil tibi facere und die Niederrömiosche-Steigerung: verdorrich, kannze jetzt mal endlich kommen? Auf Latein gleich tandem venit. also Niederrömisch einfach: „Komma“!

Die neue niederrheinische Generation sagt jetzt immer: „Schickma“!
Andauernd sagen dieschickma: schick ma rüber, schickma dat ruhig. kannze mir schicken?
Oder auch als kritische Fragestellung: hasse mir dat geschickt?
„Schickma“ ist die niederrömische Steigerung von geschickt sein.

„Oppa“ ist nicht Niederrömisch, das wäre ja lateinisch: avus, also Opa. Und ins Niederömisch gesteigert: „Oppa“! Also lateinisch: opere gleich durch den Oppa durch operieren, das geht nicht! Nein, das ist kein Niederrömisch!


„Isso,“, sagte der IC, „Ihr Köppe könnt mir glauben, die Angst ist der Kitt unserer Gesellschaft! Angst ist der Kleber der sozialen Beziehungen, der Leim der uns zusammenhält, der Papp der uns gezwungenermaßen offenherzig denken läßt, Bindemittel zum Hände reichen. Angst ist der Kitt unserer Gesellschaft,“ schrie der uns an, die anderen Leute drehten sich schon um!
„Nich so laut,“ sagte ich, „wat sollen die Leute denken?“
„Is ja gut, ich bin leiser. Aber ist doch wahr! Auf der Arbeit nur noch Leistungsdruck, Erwartungshaltungen und ständig sagt man dir: du bist ersetzbar. Man macht uns Angst, und dann gibt es nur noch Konkurrenz, statt Miteinander. Ellenbogenphilosophie statt Hilfe einfordern, nix mit echter Kommunikation. Jeder is nur noch für sich da! Ich sag Euch:  Angst ist der Kitt!“,
„PSSSSST! Steiger dich nicht so rein!“
„Wir nehmen uns nicht mehr gegenseitig wahr, hören uns nicht mehr oder sehen uns, jeder kümmert sich um sich selbst, alles wegen der Angst! Angst ist der Kitt. Wir verlieren unsere menschlichen Bedürfnisse aus dem Blick, versuchen Erwartungen anderer zu erfüllen, auf der Arbeit, in der Familie und für Freunde dazu sein, aber wo bin ich, WO IST DER MENSCH?“
„Tschhhhhh, leise bitte, du steigerst dich rein! Kumma, da vorne sind Leute wegen Dir wieder raus gegangen, die haben Angst gekriegt!“
Der Niederrheiner wird beim Streiten gerne laut, das ist diese berühmte niederrheinische Sozialpädagogik: laut, aber völlig wirkungslos!
„Angst ist der Klebstoff unserer Gemeinschaft, kein wunder das findige Politiker Ängste schüren: Angst vor Neuem, vor Veränderung, vor Menschen, vor Flüchtenden,  vor dem Scheitern vor dem abgehängt sein und überhaupt die Angst vor der übrigen Welt!
Immer mitgehen, immer voran. Vielleicht sollten wir es mit mehr Liebe probieren: sich aushelfen, Hände reichen, um Hilfe bitten dürfen, Verantwortung teilen dürfen, mal Schwach sein dürfen, Verzeihen können, mal echt und ohne Fassade, das wäre doch was! Aber da ist wohl nur der Gedanke ein Vater!“
„Der Wunsch der Vater des Gedanken, heißt es, IC!“
Aber IC blickte schon wieder auf sein Herrengedeck, obwohl er recht hatte, und sein Sinnen erinnerte mich an einen Moment der Ruhe, der Stille, Schicht im Schacht, Pause im Gelände:
Erst neulich sass ich in Friemersheim an der wunderschönen Kappelle, neben mir der Schweden-Holger und wir blickten auf den Rhein in die Dunkelheit, auf einen grauen Schornstein mit orangener Flamme.
Und in diese orangene Stille hinein, in diesen niederrheinischen Moment, sagte der Schweden-Holger etwas, was irgendwie ganz Weise klang: „Mir sagte mal jemand: 'Du musst immer wieder aufstehen, wenn Du sechs mal fällst, musst du sieben mal aufstehen!
Du musst immer wieder Tabul rasa machen, eine neue Rechnung eröffnen, einen Schnitt machen und einen Strich drunter setzen. Wenn sich eine Tür schließt, geht irgendwo eine neue Tür auf, du musst nur hindurch gehen, immer in der Bewegung bleiben, that`s it man!
Das ist Wachstum, das ist Entwicklung, Metamorphose, Bewegung, Ellenbogen raus und aufstreben, weitermachen, immer voran in der Bewegung und nie stehenbleiben, wir sind nämlich ersetzbar!'
Aber irgendwie ist mir das zu anstrengend geworden! Ich bin so müde von der Bewegung und fühle mich, wie eine Schneeflocke, die in einem Sommerfeld niederfällt und einfach zerfließt, oder in der Bewegung zergeht. Meine Handlungen haben keinen Sinn mehr, denn es geht nur noch darum, es anderen recht zu machen, sich zu entwickeln, nie stehenbleiben zu dürfen.
Wir rennen und hasten von Abschnitt zu Abschnitt, von Mensch zu Mensch, lassen zurück, demütigen, tun weh, keine Vergebung. Es ist diese Bewegung, die mich träge macht, die mich zum Stillstand bringt! Wir reichen Hände, ohne wirklich etwas zu geben und wir bringen genau das unseren Kindern bei: 'Wer rastet der rostet, du musst alle Hebel in Bewegung setzen, sei ein rollender Stein, denn ein rollender Stein setzt kein Moos an!
Du musst ein Kämpfer sein, dich durchsetzen, stärker sein und nicht angreifbar und unfehlbar!' Ja Steffen, äußerlich bewegen wir uns, obwohl wir innerlich auf etwas anderes warten. Kurios, nicht wahr. Ein Paradoxon, eine seltene Antinomie, ein lebendiger Widerspruch und weise Polarität. Wir bewegen uns, obwohl wir schon auf der Stelle treten. Außen lebendig, innen tot. Wir wachsen, aber wir verlieren uns. Wir streben nach Großem, aber hinterlassen keine Spuren, die wir brauchen, um uns zu finden.
Unsere wahren Spuren.
Vielleicht ist es diese Bewegung, Steffen, die mich so träge macht. So fürchterlich müde.
Ich habe meine wahren Spuren verloren.“

Wir blickten stumm auf den Turm an der anderen Rheinseite und verfolgten die Bewegung der flackernden Gasflamme, wie sie über den grauen Schornstein in der Dunkelheit schwebte, denn das ist eben das typische bei uns am Niederrhein, das Grüne und das Graue zugleich: ein Paradoxon. Traurig und humorvoll, lachen und weinen. Lebensfreude bewahren,auch wenn es schmerzt, wie eine Gasflamme in der Dunkelheit. Paradoxon eben.

Fotos von Peter Deubel








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