Bedürfnisse und so wat - Steffen Kersken

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Bedürfnisse und so wat

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Bedürfnisse – mehr als ein Wort!

Neben ungewollten Krisen und Pausen, wo wir uns zwangsweise neu erfinden müssen, gibt es Auszeiten, so kleine Inseln im Alltag, die wir uns bewusst schaffen können, wenn wir es denn möchten! Der Mensch merkt dabei schnell, es gibt noch Bedürfnisse, die fernab von Beruf vorhanden bei uns vorhanden sind. Der Beruf gibt uns Identität, Selbstwert und Anerkennung und vieles mehr, aber selbstbestimmte und Bedürfnis orientierte Pausen, machen uns unabhängig von anderen und Gesellschaft, bestimmen unser eigenes Wertesystem und ich fördere mein Selbstbild.
Sport treiben, Kurse belegen, Musik hören, Kurztrips, malen etc. einfach mal verrückte Dinge ausprobieren!
Liebe Freigeister, Sie werden überrascht sein, was uns alles ausfüllen kann, fernab vom Wertesystem „Beruf“ . Und eines ist mir klar geworden: ich darf selber bestimmen, was mir neben der Existenzsicherung von Wert ist, das muss einem anderen nicht gefallen, aber ich nehme mich wichtig!
Ich für meinen Teil Sinne ja gerne....ja Sinnen. Positives Nachdenken. Nicht grübeln oder dösen, nein, erhoffen,  aber nicht abschalten, nee, eher phantasieren oder tagträumen. Ich geh gerne in die Kneipe, setz mich da hin, ganz alleine und tagträume. Tagträume sind wichtig, oft Grübeln wir über Probleme und das macht negative Gefühle, wie Angst. Aber wenn wir Tagträumen, dann ist das positives Träumen, an etwas Schönes denken.
Liebe Quergedachten, das müssen sie mal wieder versuchen: Tagträumen!
Sich in schöne Augenblicke träumen, sich geistig vom stressigen Alltag „wegüberlegen“.
Schönes Wort: „wegüberlegen“.
„Schatz, gestern habe ich mich geistig von dir wegüberegt“, müssen sie mal sagen...
„Aber im positven Sinne wegüberlegt“, das Sätzchen sollten Sie noch hinterherschieben!
Sie dürfen beim Tagträumen nicht depressiv aussehen, nicht wahr, bloß nicht depressiv aussehen! Bedrückt geht noch, elegisch-bekümmert, na ja, bedröppelt, nun gut, trübsinnig ok, schwermütig kein Problem, aber bloß nicht depressiv!
Letztens saß ich in Moers in ner Kneipe, war am Sinnen und da kam ein Gast zu mir an die Theke:
„also Herr Kersken, sie gucken aber depressiv! Bei Ihnen is wohl sämtlicher Hopfen und Malz verloren, sie schauen ja, als hätte Sie der Esel im Galopp verloren!“
„Nee, ich bin am Sinnen, sach ich!“
Oder neulich in der Laterne in Duisburg,  da saß mir gegenüber ein weiterer Gast, also sonst niemand, nur wir zwei und der Wirt. Zwei Stundenlang schweigen, der Wirt wischte an seinen Gläsern rum, und mein gegenüber guckte auf sein Herrengedeck, also Bier und Korn und hat sich schweigend weggesoffen. Et sah jedenfalls so aus, als würde er jetzt weniger nachdenken oder Sinnen. Aber man weiß ja nie genau, wenn so Leute drei Stunden auf das Bier und Korn gucken und schweigen, ob die jetzt nachdenken oder nicht, man weiß es nicht!
Sinnen oder Saufen, dat is die Frage! Man steckt ja nicht drin!
Man weiß es einfach nicht: denkt der Mensch jetzt nach oder ist er ins Koma verfallen?
Man steckt nicht drin in so einem Kopp, nicht wahr!
Der Mann kann besoffen sein oder womöglich hochintelligent, kann ja auch sein!
Und er  is wirklich  nur am Sinnen!
Und viel schlimmer: Er ist hochintelligent, aber ständig besoffen. Man steckt nicht drin!
Er guckt jedenfalls nach drei Stunden urplötzlich hoch, mir direkt in die Augen, ich war ganz verdutzt, und sagt:
„Ich mag deine Fresse nicht!“

Ja, wirklich wahr! Er war drei Stunden im Koma, wacht auf und sagt: „Ich mag deine Fresse nicht!“
Die Psychologen nennen das Gegenübertragung, weil er seine Probleme auf meine Fresse projiziert! Ich sage zu ihm: „Dann sind wir schon zwei!“ Da platzte der Knoten zwischen uns.
Wir haben uns danach  noch oft in Moerser Kneipen getroffen, alle nannten ihn nur IC, weil er ein bosnischer Serbe war.
Wat is ein bosnischer Serbe? Klingt erst mal seltsam! Seine Mutter Serbin und Vater Bosnier, also gesellschaftspolitisch hat es IC ziemlich getroffen, jedenfalls, da an der Adria heißen alle irgendwas mit „ic“ am Ende. IC, eigentlich Kellner in einer Moers Kneipe, sass nach Dienstschluß selber in einer anderen Kneipe und sann vor sich hin. Angetüddelt warf er deutsche Sprichwörter durcheinander. Er sagte zum Beispiel so Weisheiten wie, „Und genau da liegt der Hase begraben.“ „Welcher Hase denn?“, sag ich.
„Wenn der Meier wat will, dann kann der auf einmal von Pontius nach Pilates rennen.“
„Ach Pilates macht der Meier? Wusste ich gar nicht!“
„Also die Schwettmanns, die führen ne Ehe wie Sodom und Gomera.“
Oder letzens in der Kneipe:
„Man könnte sagen, ich bin ihm richtig vom Dach gestiegen!“
„Jau, sag ich, da bisse ihm mal richtig vom Dach gestiegen!“
Ich weiß noch, wie der die Diskussion mit den Herren Akademikern im Moerser Ritumenti geführt hat: „Ihr mit Eurem Gehalt, da müsst ihr mal die Kirche vorm Dorf lassen!“
Was für einen Sinn hätte das, eine Kirche vor ein Dorf zu bauen? Wie kämen dann die ganzen alten Leute zur Kirche?
„Bei Flüchtlingsthemen darf  man nicht um den heißen Brei herum reden, da muss man mal Farbe erkennen, Herr Kersken!“
Oder neulich:
„Mit so ner Sache, Kersken,da läute ich nicht unbedingt die große Glocke!“
„Nee, da läute mal besser nicht, IC!“
IC ist nicht nur bosnischer Serbe, sondern auch Niederrheiner und der Niederrheiner verdreht gerne sämtliche Wahrheiten, nicht wahr!
Ich habe manchmal das Gefühl, die Vergangenheit muss immer wieder neu geschrieben werden, nicht, weil neue Erkenntnisse über Geschehnisse da sind, sondern weil der Niederrheiner ständig seinen Standpunkt dazu verändert!
IC, der bosnische Serbe, bekam aber hin und wieder auch einen sehr ernsten Blick, wenn er die Augenbrauen hoch zog, dann wusste man, jetzt sinnt er gleich öffentlich! Er schmetterte neulich in die Runde: Wir dürfen nicht nur unsere eigene Sprache verstehen, „Isso“!
„Isso“ ist Niederrömisch, eine Mischung aus Römisch und Deutsch: es ist so, lateinisch factum est ita, es ist so und so war et auch immer,  ut erat semper, so wird es immer sein, glaub mir dat,
sic non semper erit!
Und die Steigerung ins Niederrömisch: „ISSO“!

Oder „Komma“, auch so ein Begriff: kommen gleich veni, komm mal eben, du hast ja sonst nix zu tun: get tempus plana, ihil tibi facere und die Niederrömiosche-Steigerung: verdorrich, kannze jetzt mal endlich kommen? Auf Latein gleich tandem venit. also Niederrömisch einfach: „Komma“!

Die neue niederrheinische Generation sagt jetzt immer: „Schickma“!
Andauernd sagen dieschickma: schick ma rüber, schickma dat ruhig. kannze mir schicken?
Oder auch als kritische Fragestellung: hasse mir dat geschickt?
„Schickma“ ist die niederrömische Steigerung von geschickt sein.

„Oppa“ ist nicht Niederrömisch, das wäre ja lateinisch: avus, also Opa. Und ins Niederömisch gesteigert: „Oppa“! Also lateinisch: opere gleich durch den Oppa durch operieren, das geht nicht! Nein, das ist kein Niederrömisch!


„Isso,“, sagte der IC, „Ihr Köppe könnt mir glauben, die Angst ist der Kitt unserer Gesellschaft! Angst ist der Kleber der sozialen Beziehungen, der Leim der uns zusammenhält, der Papp der uns gezwungenermaßen offenherzig denken läßt, Bindemittel zum Hände reichen. Angst ist der Kitt unserer Gesellschaft,“ schrie der uns an, die anderen Leute drehten sich schon um!
„Nich so laut,“ sagte ich, „wat sollen die Leute denken?“
„Is ja gut, ich bin leiser. Aber ist doch wahr! Auf der Arbeit nur noch Leistungsdruck, Erwartungshaltungen und ständig sagt man dir: du bist ersetzbar. Man macht uns Angst, und dann gibt es nur noch Konkurrenz, statt Miteinander. Ellenbogenphilosophie statt Hilfe einfordern, nix mit echter Kommunikation. Jeder is nur noch für sich da! Ich sag Euch:  Angst ist der Kitt!“,
„PSSSSST! Steiger dich nicht so rein!“
„Wir nehmen uns nicht mehr gegenseitig wahr, hören uns nicht mehr oder sehen uns, jeder kümmert sich um sich selbst, alles wegen der Angst! Angst ist der Kitt. Wir verlieren unsere menschlichen Bedürfnisse aus dem Blick, versuchen Erwartungen anderer zu erfüllen, auf der Arbeit, in der Familie und für Freunde dazu sein, aber wo bin ich, WO IST DER MENSCH?“
„Tschhhhhh, leise bitte, du steigerst dich rein! Kumma, da vorne sind Leute wegen Dir wieder raus gegangen, die haben Angst gekriegt!“
Der Niederrheiner wird beim Streiten gerne laut, das ist diese berühmte niederrheinische Sozialpädagogik: laut, aber völlig wirkungslos!
„Angst ist der Klebstoff unserer Gemeinschaft, kein wunder das findige Politiker Ängste schüren: Angst vor Neuem, vor Veränderung, vor Menschen, vor Flüchtenden,  vor dem Scheitern vor dem abgehängt sein und überhaupt die Angst vor der übrigen Welt!
Immer mitgehen, immer voran. Vielleicht sollten wir es mit mehr Liebe probieren: sich aushelfen, Hände reichen, um Hilfe bitten dürfen, Verantwortung teilen dürfen, mal Schwach sein dürfen, Verzeihen können, mal echt und ohne Fassade, das wäre doch was! Aber da ist wohl nur der Gedanke ein Vater!“
„Der Wunsch der Vater des Gedanken, heißt es, IC!“
Aber IC blickte schon wieder auf sein Herrengedeck, obwohl er recht hatte, und sein Sinnen erinnerte mich an einen Moment der Ruhe, der Stille, Schicht im Schacht, Pause im Gelände:
Erst neulich sass ich in Friemersheim an der wunderschönen Kappelle, neben mir der Schweden-Holger und wir blickten auf den Rhein in die Dunkelheit, auf einen grauen Schornstein mit orangener Flamme.
Und in diese orangene Stille hinein, in diesen niederrheinischen Moment, sagte der Schweden-Holger etwas, was irgendwie ganz Weise klang: „Mir sagte mal jemand: 'Du musst immer wieder aufstehen, wenn Du sechs mal fällst, musst du sieben mal aufstehen!
Du musst immer wieder Tabul rasa machen, eine neue Rechnung eröffnen, einen Schnitt machen und einen Strich drunter setzen. Wenn sich eine Tür schließt, geht irgendwo eine neue Tür auf, du musst nur hindurch gehen, immer in der Bewegung bleiben, that`s it man!
Das ist Wachstum, das ist Entwicklung, Metamorphose, Bewegung, Ellenbogen raus und aufstreben, weitermachen, immer voran in der Bewegung und nie stehenbleiben, wir sind nämlich ersetzbar!'
Aber irgendwie ist mir das zu anstrengend geworden! Ich bin so müde von der Bewegung und fühle mich, wie eine Schneeflocke, die in einem Sommerfeld niederfällt und einfach zerfließt, oder in der Bewegung zergeht. Meine Handlungen haben keinen Sinn mehr, denn es geht nur noch darum, es anderen recht zu machen, sich zu entwickeln, nie stehenbleiben zu dürfen.
Wir rennen und hasten von Abschnitt zu Abschnitt, von Mensch zu Mensch, lassen zurück, demütigen, tun weh, keine Vergebung. Es ist diese Bewegung, die mich träge macht, die mich zum Stillstand bringt! Wir reichen Hände, ohne wirklich etwas zu geben und wir bringen genau das unseren Kindern bei: 'Wer rastet der rostet, du musst alle Hebel in Bewegung setzen, sei ein rollender Stein, denn ein rollender Stein setzt kein Moos an!
Du musst ein Kämpfer sein, dich durchsetzen, stärker sein und nicht angreifbar und unfehlbar!' Ja Steffen, äußerlich bewegen wir uns, obwohl wir innerlich auf etwas anderes warten. Kurios, nicht wahr. Ein Paradoxon, eine seltene Antinomie, ein lebendiger Widerspruch und weise Polarität. Wir bewegen uns, obwohl wir schon auf der Stelle treten. Außen lebendig, innen tot. Wir wachsen, aber wir verlieren uns. Wir streben nach Großem, aber hinterlassen keine Spuren, die wir brauchen, um uns zu finden.
Unsere wahren Spuren.
Vielleicht ist es diese Bewegung, Steffen, die mich so träge macht. So fürchterlich müde.
Ich habe meine wahren Spuren verloren.“

Wir blickten stumm auf den Turm an der anderen Rheinseite und verfolgten die Bewegung der flackernden Gasflamme, wie sie über den grauen Schornstein in der Dunkelheit schwebte, denn das ist eben das typische bei uns am Niederrhein, das Grüne und das Graue zugleich: ein Paradoxon. Traurig und humorvoll, lachen und weinen. Lebensfreude bewahren,auch wenn es schmerzt, wie eine Gasflamme in der Dunkelheit. Paradoxon eben.

Fotos von Peter Deubel








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